17
Mai
Lieber Freund,
ich hoffe, daß Du wohlauf bist und sich Deine Heimreise einfach, angenehm und heiter gestaltete. Ich hätte Dir gerne ein paar persönliche Worte gesagt, aber sie wußte das immer zu verhindern. Auf wen von uns beiden sie dabei Rücksicht nahm, und noch immer nimmt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ich vermute aber, daß sie uns beide schützte und schützt, voreinander.
Teurer Freund, ich weiß nicht was geschehen ist. Sie schweigt darüber, lächelt, oftmals unter Tränen, und schüttelt auf jede meiner Fragen, so vorsichtig ich sie auch stelle, stumm den Kopf. Mir bleibt also nur zu raten, denn Dich kann ich nicht fragen und sie will mir nichts sagen. Vielleicht interessiert es Dich, daß sie die Bilder von der Wand nahm, in einem unbeobachteten Moment. Ich schaute vorhin nach, in allen Schubladen und Kisten, in denen sie solche Dinge aufzubewahren pflegt, aber Deine Bilder waren an keinem dieser Orte und ich frage mich, was genau sie damit tat. Du weißt sicherlich, daß mir diese Bilder ein Dorn im Auge waren und eigentlich sollte ich froh sein, daß sie nun fort sind, aber hättest Du sie gesehen, die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, heimliche Tränen fortwischend, würdest Du verstehen, warum ich mich nicht wirklich freuen kann. Und überhaupt hält sich meine Freude in Grenzen. Du wirst Dich sicherlich darüber wundern, werter Freund. Ich sollte froh und glücklich sein, denn ihre Entscheidung fiel zu meinen Gunsten, nicht zu Deinen. Du hast hart und lange gekämpft und hast es mir nicht leicht gemacht. Ihr schon gar nicht. Ich könnte mich also zufrieden zurücklehnen und mich über meinen Sieg freuen, aber, lieber Freund, Du hättest sie sehen sollen. Schmal und klein und mit gesenktem Kopf steht sie immer wieder am Fenster und schaut hinaus. Einfach nur so. Als würde sie etwas sehen, was niemand sonst sieht. Oder als würde sie auf etwas warten. Ich habe also gewonnen, aber froh bin ich nicht. Wie könnte ich auch. Stiller Gruß, D.
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