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18
Mai
Lieber Freund,
bitte verzeih mir, wenn ich in Zukunft auf diese freundliche Anrede verzichte. Du bist kein lieber Freund, Du bist das größte Arschloch, das mir jemals untergekommen ist. Das beschissenste größte sonnenbeschienene Arschloch, das die Welt jemals gesehen hat.
Du beschissenes Arschloch. Du Drecksau. Du verlogener dreckiger Hund. Du ARSCHLOCH! Arschlochgruß, D.
Baby,
ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Am Anfang? Mittendrin? Am Ende zu beginnen ist eine immer wieder gerne aufgegriffene Idee erfolgreicher Buchautoren. Ich bin kein Buchautor und außerdem kenne ich das Ende nicht. Das soll kein Vorwurf sein, ich bin mir sicher, daß auch Du das Ende nicht kennst, denn sonst würdest Du es mir verraten. Das würdest Du doch, oder?
Süße, ich habe Dich angelogen, als ich Dir vorhin am Telefon sagte, ich hätte heute abend eine Verabredung mit einem Freund und es könnte spät werden. Freund, was für ein Wort, es tut schon beim Denken weh, es auszusprechen hat mich wirklich Überwindung gekostet. Du hast nicht einmal gefragt, mit welchem Freund ich verabredet bin, hast nur "Okay" gesagt und dann geschwiegen. Als hättest Du die Lüge sofort erkannt und als wäre sie dir recht gewesen. Babe, ich wollte Dich nicht anlügen, aber ich weiß nicht weiter. Was soll ich tun? Was kann ich tun? Wie kann ich Dir helfen? Willst Du meine Hilfe überhaupt? Oder wäre es Dir am liebsten, ich würde verschwinden und nie wieder kommen? Soll ich gehen, damit Du gehen kannst? Ich verstehe so vieles nicht, Süße. Warum bist Du nicht mit ihm gegangen, wenn Du ihn so sehr vermisst? Warum bist Du noch hier? Und warum, verfluchte Scheiße, können wir beide nicht miteinander reden? Warum sagst Du mir nicht, worüber Du so viel weinst? Und, wenn ich schon einmal dabei bin, könntest Du bitte, bitte, bitte mit dem Weinen aufhören? Weißt Du, wie das für mich ist? Es macht mir ein schlechtes Gewissen, Süße, als wäre alles meine Schuld und ich der Klotz an Deinem Bein. Der verachtenswerte Dreckskerl, der Deinem Glück im Wege steht. Bin ich das? Bist Du nicht meinetwegen geblieben, sondern nur Deines schlechten Gewissens wegen? Weinst Du deshalb so viel? Ich hoffe, daß Du schläfst, wenn ich nachher heimkomme. Wenn Du schläfst, weinst Du nicht und ich muß mich nicht fühlen wie ein blödes Arschloch. Ich liebe Dich. Egal, was ist und egal, was wird.
Lieber Freund,
seit Du die Heimreise angetreten hast, hat sich der Himmel zunehmend verdunkelt und heute regnet es, nicht heftig, aber beständig. Ein Wetter, das nicht in den Mai gehört, aber mir angemessen erscheint.
Als ich ihr heute morgen vorschlug, sich krankzumelden, lehnte sie ab. "Ich bin nicht krank.", sagte sie, verschwand im Bad und schloß sich, entgegen jeder Gewohnheit, ein. Ich wollte nicht lauschen, aber als sie nach einer halben Stunde immer noch hinter der verschloßenen Türe verschwunden war und ich vorsichtig anklopfte, hörte ich ihr Schluchzen. Sie tat das, was sie seit Tagen tut: sie weinte. Lieber Freund, fast hätte ich sie in diesem Moment gepackt, zur Türe hinaus geschoben und in den nächsten Zug gesetzt, Dir hinterher. Fast erschien es mir als das einzig sinnvolle, sie Dir nachzuschicken. Aber würdest Du sie in Empfang nehmen? Würdest Du sie Willkommen heißen? Würdest Du Dich um sie kümmern? Wie kann ich sicher sein, nachdem Du, heimlich Hals über Kopf, ohne sie aufgebrochen bist? Ich traue Dir nicht, mein Freund, ich traue Dir nicht über den Weg. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich mir selbst nicht traue. Der Gedanke, sie würde fahren und nicht wieder kommen, niemals wiederkommen, weil Du sie erwartet hast und sie keinen Grund mehr zum weinen hat, schmerzt zu sehr. Es ist nahezu unerträglich, sie in ihrem Kummer zu sehen, aber noch unerträglicher wäre es, sie niemals wiederzusehen. Warum hast Du nicht zuende gebracht, was Du begonnen hast, teuerster Freund? Hattest du plötzlich Skrupel? Hast Du unverhofft Dein Gewissen entdeckt? Ist Dir eingefallen, daß sie das Mädchen einer Deiner ältesten Freunde ist und daß man alten Freunden nicht die Frau ausspannt? Oder war alles nur ein Spiel für Dich, das Dich am Ende langweilte und welches Du gar nicht gewinnen wolltest, weil es in diesem Spiel nicht um Sieg oder Niederlage geht, sondern nur darum, zu spielen? Erinnerst Du Dich an diesen Sommer in Frankreich, als wir beide an der Atlantikküste zelteten? Erinnerst Du Dich an diese alberne Wette? Damals hast Du gewonnen. Heute gibt es keinen Sieger, nur Verlierer. Bitterer Gruß, D.
17
Mai
Lieber Freund,
ich hoffe, es geht Dir auch nicht besser, denn wenn das so wäre, müßte ich mich gezwungen sehen, dafür zu sorgen, daß es Dir schlecht geht.
Ich hoffe, es geht Dir ausgesprochen schlecht. Ich hoffe, Du kannst nicht schlafen, liegst wach in Deinem Bett und suchst nach ihrer Hand. Ich hoffe, daß ihr Weinen Dich wach hält. Ich hoffe, daß Du leidest. Doppelt so viel wie sie und dreimal mehr als ich. Ich hoffe, Du hast Deine eigene Hölle, und ich hoffe, es ist Deine ganz allein und niemand hält Deine Hand. Zorniger Gruß, D.
Lieber Freund,
ich hoffe, daß Du wohlauf bist und sich Deine Heimreise einfach, angenehm und heiter gestaltete. Ich hätte Dir gerne ein paar persönliche Worte gesagt, aber sie wußte das immer zu verhindern. Auf wen von uns beiden sie dabei Rücksicht nahm, und noch immer nimmt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ich vermute aber, daß sie uns beide schützte und schützt, voreinander.
Teurer Freund, ich weiß nicht was geschehen ist. Sie schweigt darüber, lächelt, oftmals unter Tränen, und schüttelt auf jede meiner Fragen, so vorsichtig ich sie auch stelle, stumm den Kopf. Mir bleibt also nur zu raten, denn Dich kann ich nicht fragen und sie will mir nichts sagen. Vielleicht interessiert es Dich, daß sie die Bilder von der Wand nahm, in einem unbeobachteten Moment. Ich schaute vorhin nach, in allen Schubladen und Kisten, in denen sie solche Dinge aufzubewahren pflegt, aber Deine Bilder waren an keinem dieser Orte und ich frage mich, was genau sie damit tat. Du weißt sicherlich, daß mir diese Bilder ein Dorn im Auge waren und eigentlich sollte ich froh sein, daß sie nun fort sind, aber hättest Du sie gesehen, die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, heimliche Tränen fortwischend, würdest Du verstehen, warum ich mich nicht wirklich freuen kann. Und überhaupt hält sich meine Freude in Grenzen. Du wirst Dich sicherlich darüber wundern, werter Freund. Ich sollte froh und glücklich sein, denn ihre Entscheidung fiel zu meinen Gunsten, nicht zu Deinen. Du hast hart und lange gekämpft und hast es mir nicht leicht gemacht. Ihr schon gar nicht. Ich könnte mich also zufrieden zurücklehnen und mich über meinen Sieg freuen, aber, lieber Freund, Du hättest sie sehen sollen. Schmal und klein und mit gesenktem Kopf steht sie immer wieder am Fenster und schaut hinaus. Einfach nur so. Als würde sie etwas sehen, was niemand sonst sieht. Oder als würde sie auf etwas warten. Ich habe also gewonnen, aber froh bin ich nicht. Wie könnte ich auch. Stiller Gruß, D.
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